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Eine Lebensgeschichte

Ich war im Juni 2004 auf einen anderen Chat für Alkoholiker und deren Angehörige gestoßen und war seitdem nahezu täglich dort online. Dadurch konnte ich eine große Spannbreite an Schicksalen erleben, die zum Teil Parallelen als auch große Variationen aufwiesen. Ich bin Alkoholikerin, und war 2 Wochen vor meinem ersten Schritt in den Chat trocken geworden. Ich hatte eine Art Anfangseuphorie, fühlte mich grandios ohne Alkohol, und war voll Motivation, anderen auf ihrem Weg in ein abstinentes Leben zu helfen. Eine der meistgefragten Fragen der Mitchatter, insbesondere der Neuen, im Verlaufe meiner Chatzeit seitdem war: „Wie hast du es geschafft?“ Gemeint war natürlich: wie konntest du endlich vom Alkohol lassen?

In mir entfachte das immer einen Eifer, weil ich ja unbedingt erreichen wollte, dass auch andere Menschen endlich meinen glücklichen Weg gehen konnten. Doch immer wieder schwebten meine Finger ratlos über der Tastatur, und ich wusste mich nicht wirklich zu vermitteln.

Meistens blieb es dann bei einer Schilderung meines Weges, den ich aber nicht einmal bewusst gestartet hatte. Ich bin damals nicht in eine Suchtberatungsstelle gegangen, ich war nicht bei einem Hausarzt, ich habe weder Entgiftung noch Langzeittherapie gemacht. Ich war einfach „nur“ seelisch und körperlich zusammen gesackt, und habe mich zu einem Neurologen in Behandlung begeben, dann nach 3 Wochen für 4 Monate in eine Tagesklinik für psychosomatisch kranke Menschen, und schließlich für 3 Jahre in eine ambulante Psychotherapie. Erst ein halbes Jahr nach meinem ersten Besuch bei diesem Neurologen habe ich unter der Psychotherapie meine Sucht eingestanden, und wusste plötzlich genau: ich will mein weiteres Leben OHNE Alkohol erleben! Ich muss betonen, dass dieser Weg weder beispielhaft noch empfehlenswert war, aber es war meiner, der mich bis zum heutigen Tag immer weiter zur zufriedenen Abstinenz geführt hat. Niemals würde ich einem hilfesuchenden Menschen nahe legen, noch trinkend eine Psychotherapie zu beginnen, denn wirkliche Erfolge können dabei trinkend nicht erreicht werden. Viele andere Wege lernte ich im Laufe meiner intensiven Chatzeit durch Gespräche noch kennen. Den sogenannten „Königsweg“ über Entgiftung, Langzeit und Nachsorge, den Weg, nur über den Chat trocken zu werden, den Weg, sich ohne Therapie einer Gruppe anzuschließen und vieles mehr. Auch dass einige Mitchatter mehrere Anläufe brauchten, um heute zu sagen: es hat sich gelohnt, nicht aufzugeben.

Dennoch erkannte ich aber immer wieder meine Hilflosigkeit, wenn ein neuer Chatter online kam, der verzweifelt DEN heilsamen Weg wissen wollte, der ihn zum Erfolg führt. Wenn einem dieser Chatter dann das ganze Prisma der möglichen Wege aufgezeigt wurde, erlebte ich oft Reaktionen, die denen der anderen vor ihm ähnlich waren:

  • aber ich kann doch nicht einfach zu meinem Arzt, und sagen, ich trinke
  • aber ich kann nicht Monate lang von zu Hause und meiner Familie weg sein
  • aber ich schäme mich, in einer Gruppe von Menschen alles über mich zu erzählen
  • aber ich lebe in einem Dorf, und mich kennt hier jeder
  • aber ich darf meinen Job nicht verlieren, dann geht doch alles erst recht den Bach runter
  • aber dann verliere ich ja alle meine Kumpels
  • und am allerallerliebsten möchte ich, dass ich einfach wieder mit dem Trinken aufhören kann, und keiner etwas davon erfährt, was mit mir los war

Das führte oftmals im Chat zu den Kreislaufgesprächen, die nach Stunden intensiven Einsatzes der Stammchatter wieder am Ausgangspunkt angelangt waren. Wie bei mir auch spürte ich dann bei den anderen hilflosen Helfern Ärger, Frustration und zuweilen auch harte Ablehnung weiterer Bemühungen. Ich habe mir immer wieder den Kopf darüber zerbrochen, welche anderen Wege des Vermittelns es geben könnte, denn ganz offensichtlich reichte es nicht, dass das ganze Spektrum der Ärzte, Beratungsstellen, Kliniken und Selbsthilfegruppen abgehandelt wurde.

Ich verglich die oben aufgezählten ablehnenden Aussagen mit denen derjenigen Chatter, die in zufriedener Abstinenz leben, und stellte fest, dass es für eine jede ein Pendant gab:

- ich habe mich damals zu meinem Arzt geschleppt, weil ich nur noch einen Wunsch hatte: nicht mehr trinken zu müssen
- ich habe mit meiner Familie alles besprochen, und konnte mir die Zeit für meine Therapie nehmen
- ich bin vor der Tür der Selbsthilfegruppe auf und ab gegangen, und war erleichtert, als mich dann jemand mit hinein nahm
- ich habe meine Umgebung gewechselt, denn alles hier erinnert mich an meine Trinkzeit
- ich habe mit meinem Chef gesprochen, und ich konnte vertreten werden für meine Therapie
- ich wollte ohne Alkohol leben, und habe mich darum von all meinen Trinkkumpanen gelöst
- ich weiß, dass ich unabänderbar süchtig bleibe, ich spreche darüber, und ich muss mich nicht vor Scham verstecken

Ja, ich weiß, das war jetzt sicher eine mehr als plakative Darstellung, denn sicherlich ging es nicht bei einem jeden so glatt und problemlos von statten, wie ich es oben dargestellt habe. Ganz oft gab es sicherlich Ärgernisse im Beruf, ganz oft zeigte sich die engere Familie nicht vollends verständnisvoll, ganz oft ist auch ein Umzug in eine andere Umgebung nicht ohne weiteres zu leisten. Was mich aber als Fazit interessierte war:

Was muss in der Zwischenzeit passieren, bis ein noch aktiver Süchtiger zu der Einstellung kommt, ohne WENNS und ABERS nahezu alles an Hilfe anzunehmen, was er nur kriegen kann, um ohne Alkohol leben zu können, denn das erscheint mir als Grundvoraussetzung, den persönlichen Weg mit Überzeugung zu beginnen - wie auch immer dieser aussehen mag.

Wir sprachen von DEM Tiefpunkt im Chat nicht nur ein Mal, wir sprachen von DEM Willen nicht nur ein Mal, wir sprachen von Durchhalten, Kampf, Erfolg und Misserfolg. Doch selten konnten wir in klare, unmissverständliche Worte fassen, was uns - jeden Einzelnen - letztlich auf den Weg gebracht hat. Was bei dem Einen zum Trocknen reichte, war für den Anderen noch lange nicht ausreichend. Inzwischen habe ich mir ein laienhaftes Bild aufgebaut, womit ich mich zunächst für mich zufrieden geben könnte, wäre aber an einer fortlaufenden Ergänzung durch euch, denen ich dankbar für mein Interesse an meinen Gedanken bin, sehr interessiert. Ich glaube, dass jeder Mensch, der seinen Weg in eine zufrieden stellende Abstinenz angepackt hat, Erlebnisse, Erfahrungen, sogar Verkettungen vieler individueller Lebenssituationen durchlaufen muss, die ähnlich einem vom Leben diktierten Sternlauf irgendwann auf DEN Tag zustreben. Na ja...vielleicht ist es nicht bei jedem so, denn wir wissen auch von Todesfällen durch die Folgen von Alkoholsucht. Aber die Menschen, die das Glück?...den Willen?...die Motivation?...die Verzweiflung?...den Zufall?...erleben durften, die letztlich in ein Leben ohne den Suchtstoff Alkohol geführt haben, können für Andere wahrscheinlich kaum anderes tun, als immer wieder von sich zu berichten. Von ihren Gefühlen, von ihren Ängsten, von ihren beglückenden Erlebnissen ohne Stoff, von ihren Zweifeln und der Überwindung problematischer Situationen auch noch in der Abstinenz, von der Motivation, mit anderen ebenfalls trocken Lebenden weiter zu lernen. Ich wünsche es jedem Menschen, der sich noch hilflos einem Suchtmittel ausgesetzt fühlt, dass er seinen Sternlauf bald erfolgreich beenden kann.

Karen

 
 
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